Besser forschen mit interoperablen Versorgungsdaten

In der medizinischen Forschung werden in der Regel Daten ausgewählter Studienteilnehmender unter kontrollierten Bedingungen erhoben (in prospektiven Studien). Im echten Leben sollen aber alle betroffenen Menschen unter realen Bedingungen von Forschungsergebnissen profitieren. Die Öffnung von Datensilos im Gesundheitssystem durch interoperable Standards, allen voran durch die ePA für alle, dient umfangreichen (retrospektive) Studien mit bestehenden Daten aus der realen Welt (Real World Data – RWD). Dadurch wird die zuverlässige Beantwortung neuer Forschungsfragen ermöglicht (Sherman, et al. 2016). Was als RWD angesehen wird, kann sehr umfassend sein: Daten, die für die Gesundheitsversorgung erhoben werden, stellen in der Regel jedoch eine besonders wichtige Quelle dar (Makady, et al. 2017).

Forschung für das echte Leben

Eine evidenzbasierte Forschung sollte drei Schritten folgen (Haynes 1999): Erstmal muss erforscht werden, ob eine Hypothese, z. B. die Wirksamkeit eines neuen Medikaments, bei repräsentativen Patient:innen unter idealen Bedingungen überhaupt zutrifft („Can it work“?). Danach kann geprüft werden, ob und wie sie bei allen relevanten Patientengruppen oder bei sehr spezifischen Patientengruppen unter den üblichen Umständen gilt, auch über einen längeren Zeitraum („Does it work in practice“?). Letztlich muss geprüft werden, ob der breite Einsatz, u. a. bezüglich verfügbarer Ressourcen, realistisch ist („Is it worth it?). Retrospektive Studien mit RWD ersetzen also keine prospektiven Studien, sondern können sie vielmehr ergänzen.

Forschungslücken beseitigen

Wie entscheidend die Forschung mit RWD sein kann, zeigt die Vernachlässigung von bestimmten Patientengruppen, z. B. aufgrund ihrer Immobilität oder ihrem Risikostatus. Wie die Nutzung von RWD diese Forschungslücke schließen kann, wird deutlich im Beispiel der Erforschung von Antikoagulantien für Patient:innen mit einer Nierenschwäche – eine Patientengruppe, die von der Medikation besonders profitieren kann, aber von kontrollierten Studien aufgrund von Risikoabwägungen generell oft ausgeschlossen wird (Godino, et al. 2019).

Praktische Entscheidungen unterstützen

RWD kann nicht nur prospektive Studien ergänzen, sondern explorativ Zusammenhänge aufzeigen, die wiederum zur ärztlichen Entscheidungsunterstützung genutzt werden können. So konnte die Analyse von Daten aus elektronischen Patientenakten die Sicherheit von Endoskopien bei schwangeren Patientinnen mit Alarmsymptomen (z. B. rektale Blutungen), die u.a. auf Krebs hinweisen könnten, erhöhen (Ko, et al. 2020). Darüber hinaus kann personalisierte Medizin von einem Echtzeit-Einsatz von RWD profitieren, indem Ärzt:innen gezielt nach Therapiemöglichkeiten und -erfolgen vergleichbare Patientenfälle suchen.

Wirksamkeitsvergleiche bieten

Gerade für die Einschätzung der für den jeweiligen Fall passendsten Behandlung sind Studien mit RWD nützlich. Denn im Gegensatz zu prospektiven Studien, in denen die prinzipielle Wirksamkeit einer spezifischen Intervention (z. B. einer Medikation) getestet wird, geht es in der Praxis in der Regel um die Auswahl der für den Fall passendsten Intervention, z. B. das geeignetste Arzneimittel unter zahlreichen Alternativen (Romio, Sturkenboom and Corrao 2013). In solchen Situationen müssen Ärzte die vergleichende Wirksamkeit und Sicherheit von Interventionen (wie Arzneimittel) kennen. RWD sind gut dafür geeignet, die dafür benötigte vergleichende Wirksamkeitsforschung zu informieren.

Forschen in und für die Gesundheitsvor- und -versorgung

RWD, insbesondere elektronische Patientenakten, sind besonders relevant für die Versorgungsforschung, z. B. für sog. pragmatic clinical trials. Hier geht es darum, praktische Fragen im Routinesetting zu erkunden, bspw. Einflussfaktoren auf die Häufigkeit von Krankenhausbesuchen (Rudrapatna und Butte 2020) oder wie die Vergütung von Versorgungsleistungen und andere Faktoren des Gesundheitssystems den Behandlungserfolg beeinflussen. Das ermöglicht eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung in einem lernenden Gesundheitssystem. Denn durch die Erkennung von Risikofaktoren kann nicht nur auf individueller Ebene (Ärzt:innen und Patient:innen), sondern auch auf der Ebene von Gesundheitseinrichtungen und auf gesellschaftlicher Ebene (Gesundheitspolitik) frühzeitig gehandelt und vorausschauend geplant werden.

Für Gesundheitseinrichtungen kann die Auswertung von RWD die Basis für eine Optimierung ihrer Ressourenallokation bieten – Geräte, Räume, Betten und Personal. Wie jedoch in der Corona-Pandemie beobachtet werden konnte, ist hierbei die gesundheitssystemische Sicht mit allfälligen Ressourcen-Reserven zu berücksichtigen. Ein Gesundheitssystem muss somit resilient und adaptierbar sein. Die Rolle von RWD dafür zeigte uns kürzlich die Covid19-Pandemie, in der RWD-Studien eine besonders wichtige Quelle für die schnelle Zulassung von Impfstoffen, die Erkennung von  Patientensymptomen und der Morbiditäts- und Mortalitäts-Risiken war (Schad and Thronicke 2022). Voraussetzungen für ein dynamisch lernendes Gesundheitssystem ist die zeitnahe Nutzung von Versorgungsdaten und deren Zusammenführung mit relevanten Informationen  (Gesundheitswesen 2023). Hierzu können Daten „aus anderen Lebens- und damit Politikbereichen – etwa Umwelt, Arbeit, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Wirtschaft und Bildung“ – verwendet und somit das Prinzip „Health in All Policies“ gestärkt werden (Gesundheitswesen 2023). Die begonnene Neuausrichtung der Public-Health-Forschung im Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), könnte aufbauend auf anonymisierten RWD empirisch fundiert zielgerichtete Maßnahmen herleiten. Gemeinsam mit der Erforschung von nationalen Kohorten wie NAKO (NAKO Gesundheitsstudie 2024) und NAPKON kann der Public-Health-Ansatz dabei unterstützen gesundheiterhaltende Maßnahmen zu setzen. Besonders zielführend ist dabei die Verknüpfung von Versorgungsdaten mit sozialen Gesundheits-Determinanten (wie Beruf, Freizeitaktivitäten, Umwelt- und Lebensbedingungen), z. B. um die gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern (He, Zhang and Dharmarajan 2023).

Neben der Erforschung der Wirksamkeit von individuellen Therapien und gesellschaftlichen Gesundheits-Maßnahmen unterstützt RWD die Erforschung der Sicherheit und Effizienz von Therapien. Das ist besonders wichtig für das Arzneimittelmonitoring, z. B. um seltene Nebenwirkungen bei spezifischen Patientengruppen zu erkennen, auch durch die Ermöglichung einer langen Beobachtungsdauer. Eine solche Pharmakovigilanz kann Teil der Vorgabe der Arzneimittelregulatorik sein (sog. postmarketing surveillance) (Cave, Kurz und Arlett 2019). Das dient nicht nur der Arzneimitteltherapiesicherheit, sondern kann auch zu einer potenziellen Erweiterung des Indikationsgebiets führen (sog. label expansion) und so noch mehr Patient:innen nutzen (Miksad and Abernethy 2018). Großangelegte Initiativen zum Arzneimittelmonitoring wie Sentinel der FDA (U. S. Food and Drug Administration) (Brown, et al. 2022) und DARWIN der EMA  (Data Analysis and Real World Interrogation Network) (Bakker, et al. 2023) sind auf der umfangreichen Verfügbarkeit von RWD angewiesen. Eine postmarketing surveillance durch RWD ist jedoch auch bei digitalen Anwendungen relevant, um ihren Nutzen schnellstmöglich in die Praxis zu bringen, wie es bei den DiGAs bereits durch die vorläufige Zulassung gängig ist. Gerade bei KI-basierten Anwendungen kann das Trainieren und die Erprobung mit echten Daten unter realen Bedingungen eine kritische Hürde für ihre breiten Einsatz überwinden.

Die Rolle von IOP-Standards

Bei all diesen Vorteilen stellt sich die Frage, warum RWD nicht ausreichend in der Forschung verwendet werden. Die kurze Antwort ist, dass die Daten in der Regel nicht zur Verfügung standen, insbesondere nicht in der benötigten Menge und Qualität. Bisher galten gerade RWD als lückenhaft und wenig zuverlässig (Kim, Lee and Kim 2018). Außerdem können mit RWD Forschungsergebnisse – auch mangels einer Kontrollgruppe - verzerrt werden (sog. selection bias) (Rudrapatna und Butte 2020), da Ärzt:innen in der Regel die bestmögliche Behandlung für ihre Patient:innen wählen. Auch als ergänzende Daten galten RWD als lückenhaft und ihre Aufbereitung als aufwendig, ohne Gewissheit, dass die Daten die für die jeweilige Studie benötigten Eingangs- und Ausgangsvariablen zuverlässig zusammenführen. Denn die Daten müssen passend für die jeweilige Forschungsfrage integriert werden, was durch die Nutzung unterschiedlicher Datenquellen und –formate erschwert wird (Gehrmann, et al. 2023). Auch wenn der potentielle Nutzen von RWD anerkannt wird, scheitert es somit oft an der Umsetzung (Malone, et al. 2018).

Die Standardisierung von interoperablen und strukturierten Daten entschärft diese Problematik und bietet eine geeignete Ausgangslage für die Datenintegration. Die mit 2025 in Deutschland einheitlich umgesetzte ePA für alle mit ihren standardisierten und strukturierten Datenformaten wird grundlegende Hürden der Nutzung von elektronischen Patientenakten für die Forschung schrittweise beseitigen. Und auch wenn Daten unterschiedlicher Standards (z. B. der ePA und der Medizininformatikinitiative) immer noch zusammengeführt werden müssen, können sie den Informationsverlust dabei minimieren, indem sie klare und konsistente Modell-Semantiken und einheitliche Terminologien verwenden. Gerade in der Forschung benötigen Datennutzende dabei die Flexibilität, Daten nach ihren jeweiligen Anforderungen valide zusammenstellen zu können. Dahingehend sind wiederverwendbare interoperable, strukturierte Bausteine und geeignete Prozesse ihrer validen Zusammenführung gefragt.

Forschen im nationalen und europäischen Gesundheitsdatenraum

Mit 15. Januar 2025 legen gesetzliche Krankenkassen für alle ihre Versicherten eine nationale elektronische Patientenakte an (die ePA für alle). Durch die elektronische Medikationsliste und dem elektronischen Medikationsplan wird die ePA von Anfang an direkten Nutzen in der Versorgung erbringen und so schnell eine umfangreiche Datenbasis schaffen. Diese steht Antragstellenden mit 01. Juli 2025 anonymisiert oder pseudonymisiert über das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) für definierte Zwecke, die Patient:innen und dem Gemeinwohl dienen müssen, zur Verfügung. Dadurch werden der Forschung nun auch regelhaft außeruniversitäre Daten verfügbar gemacht. Wie bestehende und entstehende Forschungsinfrastrukturen, allen voran die Medizininformatikinitiative (MII), die Initiative Deutscher Forschungspraxennetze – DESAM-ForNet und die Nationale Forschungsdateninfrastruktur für personenbezogene Gesundheitsdaten (NFDI4Health), mit der ePA für alle und anderen Daten der Public-Health-Forschung verknüpft und harmonisiert werden könnten und sollten, muss dabei noch koordiniert werden.

Der Aufbau der nationalen Gesundheitsdateninfrastruktur für die Versorgung (u. a. ePA) und für die Forschung (u. a. FDZ) steht in Einklang mit den Bestrebungen zu einem europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), der einen freien Datenverkehr in der EU ermöglichen wird, so dass Gesundheits-Versorgung und –forschung nicht mehr durch künstliche Grenzen beschränkt wird. Mehr dazu unter https://www.ina.gematik.de/themenbereiche/digital-health-in-europa

Bakker, Elisabeth, Kelly Plueschke, Carla J. Jonker, Xavier Kurz, Viktoriia Starokozhko, and Peter G. M. Mol. "Contribution of Real-World Evidence in European Medicines Agency's Regulatory Decision Making." Clinical Pharmacology & Therapeutics 113 (2023): 135–151.

Brown, Jeffrey S., et al. „The US Food and Drug Administration Sentinel System: a national resource for a learning health system.“ Journal of the American Medical Informatics Association : JAMIA 29 (September 2022): 2191–2200.

Cave, Alison, Xavier Kurz, und Peter Arlett. „Real‐World Data for Regulatory Decision Making: Challenges and Possible Solutions for Europe.“ Clinical Pharmacology and Therapeutics 106 (July 2019): 36–39.

Flynn, Robert, et al. "Marketing Authorization Applications Made to the European Medicines Agency in 2018–2019: What was the Contribution of Real-World Evidence?" Clinical Pharmacology & Therapeutics 111 (2022): 90–97.

Gehrmann, Julia, Edit Herczog, Stefan Decker, and Oya Beyan. "What prevents us from reusing medical real-world data in research." Scientific Data (Nature Publishing Group) 10 (July 2023): 459.

Gesundheitswesen, Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im. Resilienz im Gesundheitswesen. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2023.

Godino, Cosmo, et al. "Real-world 2-year outcome of atrial fibrillation treatment with dabigatran, apixaban, and rivaroxaban in patients with and without chronic kidney disease." Internal and Emergency Medicine 14 (November 2019): 1259–1270.

Haynes, Brian. "Can it work? Does it work? Is it worth it?: The testing of healthcare interventions is evolving." BMJ (British Medical Journal Publishing Group) 319 (September 1999): 652–653.

He, Weili, Zuoyi Zhang, and Sai Dharmarajan. "Assessment of Fit-for-Use Real-World Data Sources and Applications." Edited by Weili He, Yixin Fang and Hongwei Wang, 45–61. Cham: Springer International Publishing, 2023.

Kim, Hun-Sung, Suehyun Lee, and Ju Han Kim. "Real-world Evidence versus Randomized Controlled Trial: Clinical Research Based on Electronic Medical Records." Journal of Korean Medical Science 33 (August 2018): e213.

Ko, Myung S., Vivek A. Rudrapatna, Patrick Avila, and Uma Mahadevan. "Safety of Flexible Sigmoidoscopy in Pregnant Patients with Known or Suspected Inflammatory Bowel Disease." Digestive Diseases and Sciences 65 (October 2020): 2979–2985.

Makady, Amr, Anthonius de Boer, Hans Hillege, Olaf Klungel, und Wim Goettsch. „What Is Real-World Data? A Review of Definitions Based on Literature and Stakeholder Interviews.“ Value in Health 20 (July 2017): 858–865.

Malone, Daniel C., Mary Brown, Jason T. Hurwitz, Loretta Peters, und Jennifer S. Graff. „Real-World Evidence: Useful in the Real World of US Payer Decision Making? How? When? And What Studies?“ Value in Health 21 (March 2018): 326–333.

Miksad, Rebecca A., and Amy P. Abernethy. "Harnessing the Power of Real-World Evidence (RWE): A Checklist to Ensure Regulatory-Grade Data Quality." Clinical Pharmacology & Therapeutics 103 (2018): 202–205.

NAKO Gesundheitsstudie. 2024. nako.de (Zugriff am 04. März 2024).

Romio, Silvana, Miriam Sturkenboom, and Giovanni Corrao. "Real-world data from the health decision maker perspective. What are we talking about?" Epidemiology, Biostatistics, and Public Health 10 (2013).

Rudrapatna, Vivek A., und Atul J. Butte. „Opportunities and challenges in using real-world data for health care.“ The Journal of Clinical Investigation 130 (2020): 565–574.

Schad, Friedemann, and Anja Thronicke. "Real-World Evidence—Current Developments and Perspectives." International Journal of Environmental Research and Public Health (Multidisciplinary Digital Publishing Institute) 19 (January 2022): 10159.

Sherman, Rachel E., et al. "Real-world evidence - What is it and what can it tell us?" New England Journal of Medicine (Massachussetts Medical Society) 375 (December 2016): 2293–2297.